Letztes Jahr hatte ich ein wundervolles Erlebnis.
Während der Gartenarbeit am Zaun nahe bei der Nachbarsfamilie mit zwei kleinen Kindern, wurde ich Zuhörerin bei dem Kindergeburtstag der 5-jährigen Tochter. Die Mutter las allen Kindern das Grimmsche Märchen vom Froschkönig vor.
Erst hörte ich gar nicht hin, aber bei dem Spruch „Heinrich, der Wagen bricht…“ schalteten meine Ohren auf ganz weit offen und entführten mich in meine eigene Kindheit. Ich konnte direkt fühlen, wie aufgeregt und konzentriert ich meiner Großmutter zuhörte.
Leider sind solche Erlebnisse heute eher selten. Im Fokus der meisten Eltern stehen mehr die motorischen Spiele wie Klettern, Rutschen und (Drei-)Radfahren. Märchen sind außerdem in Verruf geraten, weil sie doch gar so brutal sind… (brutaler als die Kindersendungen im Fernsehen?)
Die Psycholinguistin Dr. Susan Kemper von der University of Kansas forscht unter anderem an dem Thema wie sich die Sprache und Kommunikation über die Lebensspanne vom Kind bis zum Greis verhält. Sie kam zusammen mit David Snowdon während der Nonnenstudie auf eine frappierende Erkenntnis.
Je besser sich die Teilnehmer an der Studie in jungen Jahren verbal ausdrücken konnten in Verbindung mit einer ausgefeilten Grammatik, desto wahrscheinlicher war eine geistige Fitness bis ins hohe Alter.
Was kann das nun für unsere Kinder bedeuten?
Dr. Kemper macht da eine klare Ansage: „Vorlesen“.
Das Beste, was Eltern für ihre Kinder tun können, ist vorlesen. Das bildet von klein auf einen großen Wortschatz und das Begreifen von gelesenen Inhalten.
Dann sind wir vielleicht eines Tages in einer Pisa-Studie zum Thema Lesekompetenz wieder vorn.
Was mir allerdings mehr am Herzen liegt:
Vielleicht können Eltern damit ihren Kindern die beste Prophylaxe vor Altersdemenz mit ins Leben geben. Nicht zu vergessen die vielen schönen Erinnerungen an die Stunden, die man gemeinsam bei einer Geschichte verbracht hat.
Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, den ich Ihnen gern aus meinem eigenen Leben beschreiben möchte, nämlich die Neugier auf die Fertigkeiten, die ich in der Schule lernen würde und die Freude an Büchern, die mir Freunde fürs Leben wurden.
Oft nahm ich die Märchenbücher in die Hand und schaute mir die Bilder darin an. Leider war ich die Einzige in der Familie, die noch nicht lesen konnte. Darüber war ich sehr traurig und ich schwor mir, in der Schule ganz gut aufzupassen, damit ich das Lesen und das Schreiben schnell lernen würde, damit ich selbst die Bücher lesen und auch solch schöne Geschichten zu Papier bringen könnte. Ach ja, beim Rechnen wollte ich ebenfalls genau hinschauen, weil mir das schon mit den Klötzchen hinlegen,ordnen und sortieren in Gruppen ganz logisch vorkam (intuitive Mengenlehre!).
Ich hatte als Kind ganz viel Glück, denn ich hatte meine Mutter, meinen Vater, meine Großmutter und meine große Schwester, die alle bereit waren mir etwas vorzulesen. Da war mein vermeintlicher Mangel, noch nicht lesen zu können, zu ertragen.
Ich bin durch das Vorlesen zu meinem guten Gedächtnis gekommen. Zu meinem dritten Geburtstag bekam ich Max und Moritz, es wurde so oft vorgelesen, dass ich zwei Wochen später den Nachbarn „vorlas“. Die glaubten tatsächlich, dass ich lesen konnte, weil ich wie Oma immer den Finger unter das entsprechende Wort setzte. Es hat mir auch nicht die prophezeite Hirnhautentzuendung beschert. Dafür eine unbändige Leselust und Neugier alles Unbekannte zu hinterfragen. Meine Phantasie wurde so angeregt und viele Geschichten entstanden. Als die Kinder der Freundin mich fragten, warum ich so viele Bücher habe statt fernzusehen war meine Antwort ganz spontan: lesen regt meine Phantasie an.