„Geteiltes Leid ist halbes Leid“, so sagte meine Großmutter immer. Und irgendwie ist das immer noch richtig. Wenn es jemanden gibt, der sich aufrichtig mit meinen Sorgen und Leid beschäftigt, so bedeutet das, dass er den Versuch unternimmt, mich zu verstehen, nachzuvollziehen, was in mir vorgeht, was mich bewegt, welcher Anlass mich so traurig macht. Allein diese Anteilnahme bewirkt oft schon Wunder.
Mitempfinden, Anteilnahme setzt sich auch immer mit moralischen Bewertungen auseinander. Immer öfter lese ich in Zeitungen über Gaffer bei Unglücken, die die Retter behindern. Würden die Gaffer sich nur einen Moment in die Opfer hineinversetzten können, dann würden sie, vorausgesetzt sie sind überhaupt in der Lage Mitleid zu empfinden, schnell vom Gaffer zum Retter.
Warum opfern sich so viele Menschen ehrenhalber für die Opfer von Naturkatastrophen auf? Warum gibt es Menschen, die ihr eigenes Leben riskieren, um ein anderes zu retten?
Martin Hoffmann, Empathie-Forscher an der New York University, vertritt die These, dass Empathie die Voraussetzung für Moral, Ethik und Altruismus ist. Nur, wer sich in einen anderen hineinversetzen kann, kann auch andere Menschen veranlassen moralischen Prinzipien zu folgen.
M. Hoffmann stellte fest, dass es noch weitere Aspekte des moralischen Urteilens und Handelns gibt. Ein Aspekt ist der empathische Zorn, das natürliche Verlangen nach Vergeltung. Er tritt dann auf, wenn wir uns verletzt fühlen, weil jemand anderes verletzt wurde. Zu theoretisch?
Stellen Sie sich vor, Sie sehen eine Gruppe von Kindern, die dem kleinsten unter ihnen die Mütze vom Kopf reißen und diese von einem zum anderen werfen. Der kleine Mann hat keine Chance gegen die viel größeren zu gewinnen. Er wehrt sich zunächst verbal und die anderen verhöhnen ihn noch zusätzlich, als Zwerg, Wicht, Behinderten. Irgendwann schlägt die Stimmung weiter in Aggression um, er wird geschubst und getreten. Sie sehen die Verzweiflung in den Augen des Jungen und sehen, dass er die Tränen nicht lange mehr unterdrücken kann. Nun steigt wahrscheinlich ein „empathischer“ Zorn in Ihnen auf. Sie gehen hin und machen dem Treiben ein Ende, geben dem schikanierten Jungen die Mütze zurück und sagen den anderen ein paar Worte zu ihrem unfairen Verhalten.
Ihre Empathie hat Sie also dazu bewogen zu Gunsten des Opfers einzugreifen.
Untersuchungen in den USA und Deutschland haben gezeigt, dass die Stärke der Empathie direkt proportional zur moralischen Verantwortung steht.
Als Beispiel diente hier die Verteilung von Mitteln.
Je weniger Empathie die Menschen empfanden, desto stärker befürworteten sie das Prinzip, dass Entlohnung sich nach der erbrachten Leistung richten sollte. Je stärker Empathie empfunden wurde, wurde die Verteilung von Mitteln nach Bedarf unterstützt.
Kommt mir irgendwie ganz aktuell und bekannt vor.
In meiner Jugend war ein Spruch im Umlauf: „Wer mit 16 kein Kommunist ist, hat kein Herz, wer es mit 60 immer noch ist, keinen Verstand.“
Gemäß den Forschungen haben Jugendliche das höchste Maß an Einfühlungsvermögen erreicht. Sie können sich nach den vorangegangenen Entwicklungsstufen in die Not ganzer Gruppen hineinversetzen, wie Arme, Obdachlose, Unterdrückte, Ausgestoßene, Flüchtlinge, etc. Dieses Verständnis in der Jugend kann moralisches Handeln stützen, das dem Bedürfnis entspringt, Unglück und Ungerechtigkeit zu lindern.
Nur, diese Moral muss auch von der Erwachsenenwelt vorgelebt und gefördert werden. Tun wir das im ausreichenden Maße in Ausbildungsstätten und in der Öffentlichkeit?