Als ich von meinem Stammbaum als Samen in die Freiheit entlassen wurde, musste ich zunächst viel Energie in meine Wurzeln stecken und sie in die Tiefe wachsen lassen. Bevor ich in die Höhe wachsen kann, ist es wichtig, dass ich mich mit meinen Wurzeln festhalten und Wasser und Nahrung aus der Erde holen kann.
Ganz wichtig ist es für mich einen treuen Freund zu finden, der mir dabei hilft. Da habe ich die Mykorrhizapilze gefunden. Das sind Wurzel- und Bodenpilze. Sie umspannen meine Feinwurzeln. Wie ein Wattebausch saugen meine Pilz-Freunde Wasser und Nährstoffe aus dem Boden und geben sie an meine Wurzeln ab.
Mit meinen Blättern (also nach der Fotosynthese, diese können die Pilze nicht selbst betreiben) werde ich mich für ihre freundliche Unterstützung mit Zucker und anderen Kohlehydraten revanchieren und sie bei Laune halten. Denn sie helfen mir nicht nur bei der Nährstoffversorgung, sondern schützen meine zarten Wurzelspitzen auch vor krankheits-erregenden Bakterien oder räuberischen Pilzen (die gibt es nämlich auch).
Meine Wurzeln sind nicht nur wichtig für meine Ernährung, sie müssen mir auch wie Standbeine Halt geben. Denn meine breite Krone (na gut, sie will es mal werden) kann mich ganz schön aushebeln, wenn es mal stürmisch wird. Dazu muss ich zunächst herausfinden, aus welcher Richtung der Wind am meisten und am stärksten weht. Dann kann ich auf der windabgewandten Seite große, dicke Stützwurzeln bilden.
Wenn ihr mich fragt, wie ich denn die Windrichtung erkenne?
Das ist ganz einfach, aber auch schmerzhaft, ungefähr so, als wenn ihr nach dem Hanteltraining einen Muskelkater habt. Wie das Hantelstemmen zu kleinen Rissen in den Muskelfasern führt, so fügen mir heftige Windböen durch Überdehnung kleine Risse im Stamm zu. Um den Schmerz in Zukunft zu vermeiden, verstärke ich auf der gegenüber-liegenden Seite meine Wurzeln als Stützwurzeln so wie ihr durch ständiges Training eure Muskeln aufbaut.
Da gibt es übrigens noch einige weitere Tricks, wie ich Umwelt-bedingungen begegnen kann, trotz meiner Bewegungslosigkeit. Das erzähle ich euch vielleicht einmal später.
Ganz wichtig sind nun Höhenwachstum und die Bildung des Stammes.
Nur ganz kurz zum Stamm. Er ist sozusagen mein Knochengerüst. Er muss fest, kerzengerade, gleichmäßig rund und eine nach allen Seiten ausgebildete Krone tragen. Na ja, das ist der Idealzustand vergleichbar mit eurer Claudia Schiffer. Und wer sieht von euch schon so aus?
Aus eurem Äußeren kann man, wie Kommunikationsforscher sagen, sehen, wie es euch geht, euren Gemütszustand erkennen. Auch wir Bäume drücken durch unser Äußeres aus, wie unser Befinden ist, wo uns der Schuh drückt.
Nun muss ich euch noch etwas über unsere Baumgesellschaft erzählen.
Wie ihr wisst, können wir ja nicht weglaufen, wenn uns ein Nachbar überragt. Was wirklich blöd ist. Da kriegt man von der lebensnotwendigen Sonne einfach nicht genug ab. Deswegen müssen so Jungspunte wie ich uns eine andere Taktik überlegen. Wer von unten anfängt, muss lernen zu warten. Deswegen ist meine Krone noch sehr schmal und meine Äste sind spindeldürr.
Meine Strategie: „Holzauge sei wachsam“. Eines Tages wird einer der Riesen über mir müde und stirbt. Dann heißt es, nichts wie wachsen und nach oben. Wer als erster oben ist, der kann seine Krone ausbreiten, erhält mehr Sonnenlicht, kann mehr Zucker und Kohlenhydrate produzieren und mehr Holzmasse aufbauen.
Das kann allerdings manchmal sehr lange dauern, wie ein kleiner Wicht, nicht viel größer als ich, mir erzählte. Er wartet schon mehr als hundert Jahre.
Ja, wenn ich so viel Zeit habe, dann will ich sie mir mal heute lassen und lieber ein anderes Mal weitererzählen.