Jedes Jahr zum ersten Weihnachtsfeiertag kam Oma Luises Freundin (Kümmsche, wie sie sagte), Fräulein Schrader, zum Weihnachtsmahl.
Fräulein Schrader bestand auf die Anrede Fräulein, weil sie stolz darauf war unverheiratet zu sein und ihr Leben dennoch in einem gewissen Wohlstand zu leben. Ich bin mir jetzt nicht mehr ganz sicher, ob sie Köchin bei besseren Herrschaften oder Haushälterin war. Auf jeden Fall waren die Möbel und alles weitere Inventar in ihrem eigenen Haus sehr erlesen.
Zum Leidwesen meiner Eltern, die lieber etwas länger geschlafen hätten, kam sie schon früh am Morgen, um sich „nützlich“ zu machen. Es gab immer eine Vorsuppe aus einem großen Suppenhuhn, weil meine Oma sie so liebte. Danach einen Braten, an den ich mich nicht mehr so gut erinnere, weil er mir als Kind nicht besonders wichtig war, außer es war ein Sauerbraten. Dazu wurden Kartoffelknödel und Rotkohl gereicht und ein russischer Salat aus Erbsen, Möhrchen, Eiern, Sardellen und Kapern.
Nach dem Essen wurde abgeräumt und sofort abgewaschen. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie das gemeinsame Arbeiten besonders genoss. Natürlich auch das gemeinsame Essen.
Es war eine Freude ihr zuzugucken, wie sie still und genussvoll in unserer Runde saß.
Meine Gedanken gehen sehr oft an sie zurück. Ich habe nie gefragt, warum eine „Fremde“ an unserem Weihnachtsessen teilnahm. Mir ist heute klar, dass sie zum Weihnachtsfest nicht allein sein sollte.
Gut, Fräulein Schrader war nicht wirklich eine Fremde. Aber hat der eine oder andere von euch schon mal darüber nachgedacht, was er für einsame Menschen zu Weihnachten tun könnte? Es muss keine Einladung in die Familie sein. Lasst euch doch etwas Originelles einfallen, um Leid zu lindern. Es gibt genug vor der eigenen Haustür. Sperrt die Not und das Leid nicht aus, sondern nehmt sie wahr. Wir können nicht überall helfen, aber jeder für sich kann etwas Kleines bewegen. „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40)
Denkt daran:
Geteilte Freude ist doppelte Freude und geteiltes Leid ist halbes Leid.
Fräulein Schrader und ihre Schwester Frau Kopper waren beide Omas Freundinnen. Wie oft haben Oma Luise und ich die beiden im Wald, wenn wir beide Bucheckern sammelten getroffen. Die beiden holten sich (allerdings mit Erlaubnis) Holz aus dem Wald. Es waren beide sehr sparsame Damen. Fräulein Schrader brachte immer eine Apfelsine, manchmal auch einen Taler für uns Kinder mit. Wenn sie Weihnachten nach Hause gebracht wurde, lehnte sie jedesmal ab, sich in das Auto zu setzen. Papa machte sich dann mit ihr zu Fuß auf den Heimweg.
Fräulein Schrader war eine ganz besondere Frau. Heute würde ich sagen, sie war damals schon emanzipiert und stand voll im Leben. An ihre Schwester habe ich nicht so viele Erinnerungen, außer dass sie eine „feine Dame“ war. Wie ich etwas älter war, hat sie mir oft ein 5 Mark Stück zugesteckt. Das war damals viel Geld. Und die berühmte Orange war immer dabei. Ach, ich glaube, über sie muss ich noch mal mehr erzählen.